Stufe 2 des Lebensintegrationsprozess nach Wilfried Nelles
In meiner Arbeit beschäftige ich mich mit den jeweiligen Bewusstseinstufen des Menschen nach Wilfried Nelles (sh. hierzu auch meinen Blogbeitrag Lebensintegrationsprozess (LIP) ).
In diesem Beitrag möchte ich mich mit der Stufe 2 - der Kindheit - beschäftigen.
Was macht die Kindheit so besonders und prägend für das Leben eines Menschen?
In der Kindheit erleben wir das erste Mal Trennung und gleichzeitig lernen wir was Bindung bedeutet.
Bevor ich tiefer auf diese Themen eingehe und aufzeige was das später mit unserem erwachsenen Leben zu tun hat, gehen wir noch einmal kurz an den Anfang – die Zeit im Mutterleib und die Geburt – zurück.
Wir erinnern uns: Im Mutterleib erfährt sich der heranwachsende Mensch als Einheit mit der Mutter. Das Baby kann nicht unterscheiden zwischen sich und seiner Mutter. Der Mutterleib ist für ihn seine ganze Welt. Gleichzeitig spürt es bereits alles was seine Mutter erlebt und tritt mit ihr in Resonanz, aber immer ohne ein Wissen, dass es zwei sind, die dort miteinander in Resonanz treten.
Die Geburt leitet den Bruch aus dieser Einheit ein. Nun gibt es ein Gegenüber für das Baby.
Zunächst ist das für das Baby nicht fassbar, es muss erst richtig ankommen außerhalb des Mutterleibs.
Hier ist der Beginn des Erlebens des eigenen Seins und die Resonanz / die Spiegelung in einem Gegenüber.
In der Regel ist dies zu allererst die Mutter und dann der Vater. Beide sind dem Säugling schon unbewusst vertraut.
Die Mutter, durch die Zeit im Mutterleib, erkennbar durch die Stimme, den Geruch und ihr Resonanzfeld – der Vater durch die Entstehung und – wenn der Mann die Frau durch die Schwangerschaft hinweg begleitet – auch bereits durch seine Stimme und sein Resonanzfeld.
Soweit so gut – nun zurück zur Trennung, die Bindung möglich macht.
Was passiert also ganz am Anfang der Kindheit? Und warum ist das so bedeutsam für das gesamte Leben?
Wir erfahren uns und unser Selbst erst durch die Spiegelung / die Resonanz eines anderen Menschen.
Dies ist also erst nach der Geburt, nach dem Bruch der Einheit mit der Mutter möglich.
Erst die körperliche Trennung macht es möglich, dass sich das Baby in anderen Menschen erkennt.
Wir sehen das gut im Verlauf des ersten Jahres. Anfänglich ist der Säugling noch ganz bei sich. Es schläft viel, äußert sich bei Hunger/Durst und anderen Bedürfnissen. Ansonsten ist es noch sehr begrenzt in der Wahrnehmung seiner Umgebung.
Das ändert sich von Woche zu Woche. Mit dem körperlichen Wachstum beginnt auch sein Bewusstsein für seine Umgebung zu wachsen.
Das Baby fängt an, Kontakt zu seinem Umfeld aufzunehmen und spiegelt sein Gegenüber.
Wen rührt es nicht, wenn man ein Baby im Alter eines halben Jahres anlächelt, dieses kurz und herzoffen einen anblickt und dann das Lächeln strahlend erwidert.
Wenn man dann weiter lächelt, fühlt das Baby sich bestätigt und man sieht diesen Moment der Freude, dass es eine Resonanz erhalten hat. Dass es gesehen wurde.
Neben der Trennung kommt nun ein wesentliches Element ins Spiel, was wir Menschen als soziale Wesen als Grundstock für das weitere Leben benötigen, und das ist die Bindung.
Bindung sichert uns einen Platz in der Familie, in der Gesellschaft und letztendlich zu uns selbst.
Erfahren wir keine sichere Bindung, wird uns das im späteren Leben immer wieder Probleme in Beziehungen bereiten.
Wie entsteht eigentlich eine sichere Bindung?
Zunächst in der Zuverlässigkeit der Bedürfnisstillung. Wie gut können die Eltern die Bedürfnisse des Säuglings nach Nahrung, Körperkontakt und Sicherheit stillen?
Gibt es eine für das Baby verlässliche Kontaktaufnahme oder wird es in seinen Bedürfnissen nicht gesehen?
Später geht es weiter mit dem verlässlichen Gesehen werden.
Habe ich zum Beispiel ein schüchternes Kind, was mich als Mutter die erste halbe Stunde im Kindergarten noch braucht, um anzukommen und die Gruppe der Kinder und Erzieher/-innen als sicher anzusehen, dann kommt es darauf an, was ich als Mutter damit mache.
Möglichkeit 1: Ich gebe meinem Kind diese halbe Stunde. Nicht drängend, sondern ich bin einfach da – als Möglichkeit des Rückzugs, als Ort der Geborgenheit. Bis mein Kind aufgetaut ist und den Schritt in die Gruppe macht. Ich mach daraus keinen Staatsakt, nehme mir einfach nur Zeit, unterhalte mich vielleicht mit den Erziehern oder beobachte nur die spielenden Kinder. Ich signalisiere damit meinem Kind „hier ist ein sicherer Ort für dich – hier lass ich dich zurück und du bist gut aufgehoben“
Möglichkeit 2: Ich gebe mein Kind ab und gehe weg. Egal wie mein Kind sich dabei fühlt. Je nach innerer Eigenheit des Kindes, kann das zu späteren Blockaden führen, da das Kind hier die Erfahrung macht, meine Mutter (oder Vater) lässt mich in einer für mich unsicheren Situation alleine zurück. Ich bin verloren und meine Bedürfnisse werden nicht gesehen. Da ist es zunächst auch egal, wenn es andere Erwachsene gibt, die das Kind aufzufangen versuchen.
Warum ist das so?
Das Kind ist in der Anfangszeit bis zum Grundschulalter noch komplett abhängig von den Eltern und erfährt sich auch so. Ohne meine Eltern bin ich verloren, werde ich nicht überleben.
Hier spielt die Evolution eine große Rolle, die dafür gesorgt hat, dass Kinder überleben.
Wie hat sie dafür gesorgt?
In dem die Kinder aus dem inneren Trieb heraus, dem Leben zu folgen, alles dafür tun, damit es den Eltern / der Familie / der Gruppe gut geht, da diese das Überleben sichern.
Aus diesem Grund heraus entwickeln wir daher unsere „Eigenarten“ / unsere Überlebensstrategien, um gut durch die Kindheit zu kommen. Diese Strategien nehmen wir dann mit ins Erwachsenenalter, da wir sie in der Bindung zu unseren Eltern entwickelt haben. Sie sind ein Bestandteil unseres Seins geworden und wir denken, dass wir „ebenso“ sind.
Wir denken, dass diese Eigenarten eine Charaktereigenschaft von uns seien und erkennen anfangs nicht, dass wir sie uns angeeignet haben, um uns einen Platz in der Familie und später in der Gesellschaft zu sichern.
Gleichzeitig erwacht in der Kindheit aber etwas parallel zu dem Abhängigkeitsgefühl und den Überlebensstrategien.
Und das ist das innere Selbst, was bereits bei meiner Entstehung in mir angelegt ist und was sich aus mir heraus entfalten möchte.
Deshalb ist der Satz von James Hillman (ein US-amerikanischer Psychologe) so stimmig:
„Wir werden mit zwei Leben geboren. Das eine Leben ist das mit dem wir geboren werden (das in uns angelegte Selbst / Potential) und das andere Leben ist das, in das wir hinein geboren werden (Umgebung, Familie, Zeitgeschehen).“
In der Kindheit ist daher unglaublich viel in Bewegung. Wir lernen viel und in uns schlagen immer diese zwei Herzen.
Auch hier ist es individuell wie sich das in unserem Leben zeigt und auswirkt.
Es gibt Menschen, die unter unglaublich schlimmen Bedingungen aufwachsen und trotzdem einer so starken inneren Vision folgen und ihr Selbst aus sich heraus entfalten lassen als hätte es diesen Start so nicht gegeben.
Und dann gibt es Menschen, bei denen vermeintlich von außen betrachtet alles stimmig war. Bei näherer Betrachtung haben sie aber so angepasst an das Leben, in das sie hinein geboren wurden, gelebt und haben nun zeitlebens Schwierigkeiten damit, ihr inneres Selbst überhaupt zu hören geschweige denn, es aus sich heraus entfalten zu lassen.
Hier zeigt sich eben auch, dass wir Menschen Naturwesen sind und nicht irgendwelche standarisierten Systeme, die immer gleich ablaufen und wo jede Stellschraube festgelegt ist.
Jeder von uns ist individuell und in seinem persönlichen Empfinden einzigartig. Das einzige worin wir uns gleichen ist, dass wir als soziale Wesen gleichermaßen Bindung und Autonomie benötigen, um mit uns selbst und in Resonanz zu anderen unser Leben zu durchschreiten.
Daher sind wir als Kinder darauf angewiesen, dass wir ein Umfeld haben, dass uns Räume gibt zum Wachsen und eine Bindung schafft, die uns in unserem Leben Wurzeln schlagen lässt.
Ich möchte dies mit einem Auszug von Khalil Gibran beenden:
„Eure Kinder sind nicht eure Kinder. Sie sind die Söhne und Töchter der Sehnsucht des Leben nach sich selber.
Sie kommen durch euch, aber nicht von euch, und obwohl sie mit euch sind, gehören sie euch doch nicht.
Ihr dürft ihnen eure Liebe geben, aber nicht eure Gedanken, denn sie haben ihre eigenen Gedanken. Ihr dürft ihren Körpern ein Haus geben, aber nicht ihren Seelen, denn ihre Seelen wohnen im Haus von morgen, das ihr nicht besuchen könnt, nicht einmal in euren Träumen.
Ihr dürft euch bemühen, wie sie zu sein, aber versucht nicht, sie euch ähnlich zu machen. Denn das Leben läuft nicht rückwärts, noch verweilt es im gestern.“